Glückliche
Reise !
Lieber Fahrgast! Der hier ausgesprochene Wunsch "Glückliche Reise!"
will keineswegs als die übliche unverbindliche Redensart aufgefaßt
werden! Er ist daher in dem Sinne auch nicht wörtlich zu nehmen, wie
es zu Beginn des Reisezeitalters (z.B. bei der alten Postkutsche mit ihren
Verspätungen und Zwischenfällen) nötig und üblich war!
Nein, wir wollen Ihnen hier eine angenehme und erlebnisreiche Fahrt wünschen
und helfend dazu beitragen, daß die Eisenbahnreise möglichst
kurzweilig für Sie verläuft. Wir wollen Ihnen daher Hinweise
auf die besonderen Sehenswürdigkeiten der durchfahrenen Landschaft
geben. - Nein, bitte, wenden Sie nicht ein: "Am Rhein oder Mosel oder im
Schwarzwald oder Harz, ja da lohnt es, am Fenster auszulugen - ! Dort wendet
man sich ohnehin nicht vom Fenster, und dort kann man die Fahrt des Zuges
nicht langsam genug wünschen! Aber in dem "langweiligen" flachen Land,
zwischen Berlin und der Ostsee - ?". Nun, wir Menschen von heute sind da
darüber hinaus, auf etwas herabzublicken - auch nicht auf ein angeblich
"ödes Land", das ja schließlich deutsches Land mit deutschen
Menschen und in Wahrheit gar kein ödes Land ist! Wir müssen uns
nur in seine Eigenart hineinsehen, seine Geschichte kennenlernen und die
Zeugen seines Fleißes und seiner Kultur aufspüren. Das soll
hier auf diesen Blättern, bei der Beschreibung der Strecke geschehen.
Wer mit offenen Augen reist, wird angeregt werden, auf einer späteren
auch einmal die Städte zu besuchen, die er jetzt in eilender Fahrt
durchfährt. Beschreibungen von Städten bringt mancher Reiseführer,
auch die Führer von der Ostsee; nur ist dort natürlich das Hauptgewicht
auf die Beschreibung der Ostsee selbst, also die Schilderung des Ziels,
gelegt; die Strecke aber kommt mit ein paar kurzen Stichworten ziemlich
knapp weg. Hier dagegen wird die Strecke geschildert, alles, was es rechts
und links der Eisenbahn zu sehen gibt. Hier ist das Reisen nicht Mittel
zum Zweck, sondern die Reise selbst bereits Zweck! Das ist durchaus keine
neue Erfindung. Bewahre! Kein Geringerer als Deutschlands größter
Geistesheroe, Goethe, hat vom Reisen gesagt: "Ich für mein Teil freue
mich, so entzückend unterwegs zu sein - -". Einverstanden? - So also
wollen wir die Reise auffassen! Wir wollen die Reise zum Erlebnis gestalten,
dabei das deutsche Land kennenzulernen versuchen und manche Erkenntnis
davon mit heimnehmen! Aber betrachten wir nun die Strecken, die wir befahren
werden. Sie werden auf den nächsten Seiten zwar erst ausführlicher
beschrieben; hier soll zunächst in großen Strichen das Gesicht
des Landes zwischen Berlin und dem Ostseeraum gezeichnet werden. Das norddeutsche
Tiefland wird sich uns beim liebevollen Betrachten als abwechslungsreich
und stellenweise von inniger Schönheit zeigen. Wissen Sie, daß
die Landschaft bis etwa 80 - 100 km nördlich von Berlin zu den schönsten
und lohnendsten Ausflugsgebieten der als einzigartig geltenden Berliner
Ausflugsziele gilt? Bis auf 150 km Entfernung von Berlin reichen sogar
die Ziele der Wasserwanderer, die mit Ruder- und Motorbooten so weit hinauf
in das Wald- und Seenland vordringen! Wälder wechseln auf unserer
Strecke beständig mit Seen. Moorland, Wiesen und Felder liegen weitgebreitet
vor dem Blick, oft durchsetzt mit Waldinseln und stolzen Herrenhäusern
und Gütern in Pommern und in Fritz Reuters Land Mecklenburg. Flache
Höhenzüge erheben sich und tragen Windmühlen; an die Hänge
oder an einen Wasserlauf schmiegen sich breitgelagerte Dörfer und
Klein- und Mittelstädte. Kanäle mit regem Schiffsverkehr werden
gekreuzt, später weht uns beim Anblick hoher Türme über
buntem Dachgewirr eine Ahnung des alten Hansegeistes an. Ursprünglich
war das Land germanisch besiedelt (und zwar bereits zur Bronzezeit!), später
drangen die Slawen vor. Nach der Christianisierung wurden sie wieder nach
Osten zurückgedrängt. Einzelne Ortsnamen künden noch von
jenen für die Gestaltung Deutschlands bedeutsamen Vorgängen.
Nach dem 30 jährigen Krieg blieb ein Teil des Landes, durch das wir
fahren, in schwedischem Besitz, ja, eine Stadt - Wismar - wurde erst 1903
durch förmliche Erklärung Schwedens wieder vollkommen deutsches
Gebiet. Die Schweden hatten Wismar auf 100 Jahre verpfändet, und als
sie nach Ablauf dieser Frist die Stadt hätten auslösen können,
war der Betrag durch Zinsen auf das Zwanzigfache angewachsen! Stralsund,
die alte Ostseestadt, die wir im Gegensatz zu Wismar auf einer der hier
beschriebenen Ostseestrecken unmittelbar erreichen, wechselte innerhalb
von 2 Jahrhunderten so häufig die Staatszugehörigkeit, daß
sich eine Geschichte von unerhörter Spannung ergibt. Man kann darin
die Geschichte vom Kampf um die Behauptung Deutschlands und vom Wachsen
und Werden des Deutschen Reiches ablesen. Ein Wort über die Ostsee:
Das meist grünlichblaue, seltener stahlblaue Wasser der Ostsee erstreckt
sich in einer Länge von etwa 1550 km, mit einer Küstenlänge
von 8100 km; die Breite zwischen Deutschland und Schweden beträgt
220 km, die schmalste Stelle, die die Eisenbahnfähre zwischen Saßnitz
auf Rügen und Trälleborg (Südspitze von Schweden) überbrückt,
etwa 100 km. Diesem von 9 Staaten umschlossenen Meer eilt unser Zug zu.
Die Tenorstimmen der Räder singen "klick-klick-klack".
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Thomas Noßke 2001 | www.epoche2.de | ![]() |
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